Bildung ist eine universelle Erzählung von Hoffnung und Fortschritt. Sie ist ein menschliches Bestreben, eine menschliche Verantwortung, ein Menschenrecht. Doch dieses hohe Ideal und das heute gängige reformresistente «Fabrik»-Modell von Schule liegen weit auseinander. Was tun in einer Welt, in der viele Szenarien für das Morgen vorstellbar sind? Ein Beitrag von Trevor Mepham.
Bildungspolitik wird stets als eine streng gehütete, staatliche und nationale Angelegenheit betrachtet, ähnlich wie die Verteidigung eines Landes. Oft hat man den Eindruck, dass Bildungsgesetze in unangemessener Weise auf die Patentrezepte: Wirtschaftswachstum, Wettbewerb und technologischer Fortschritt ausgerichtet sind statt auf: Wohlergehen, Zusammenarbeit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit.
Die staatliche Bildung scheint oft die Dynamik des kapitalistischen Systems zu imitieren, das wie ein Modell der «Evolution durch Wettbewerb» zu funktionieren scheint. Die Flutwellen der Globalisierung schwappen heute an jedes Ufer, während im Hintergrund der Lärm von Uniformität, Standardisierung und Regulierung zu vernehmen ist.
Endlose Reformen, aber nichts Radikales
Es ist merkwürdig, dass Bildung ein Ort ist, an dem eine konservative Haltung über unsere Vorstellung von der Zukunft vorherrscht. Das Ergebnis dieser Haltung ist, dass wir uns mehr darauf konzentrieren, wie wir die Vergangenheit bewahren können – als darauf, wie wir die Zukunft begrüssen. Bildung wird zwar von endlosen Reformen heimgesucht, wesentlich geändert hat sie sich dadurch aber nicht. Eine grundlegende Veränderung ist auch nicht in Sicht.
Das heutige «Fabrik»-Modell der Schule, das sich ausschliesslich auf den akademischen Output und die Kosten pro Einheit konzentriert, hat sich über die Jahre hinweg als sehr widerstandsfähig erwiesen. Die Währung, die durch die Daten der PISA-Ranglisten bereitgestellt wird, hat nach wie vor einen hohen Wechselkurs. Der Gipfel der Bildungsbestrebungen bleibt die Universität.
Heute und jetzt
Und dennoch: Stehen wir kurz davor, Zeuge einer unaufhaltsamen Revolution zu werden, die Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Bildung und sogar auf das Wesen der Menschheit haben wird? Wird die sich beschleunigende Welle des Wandels, wie sie sich etwa in der künstlichen Intelligenz manifestiert, auch in der Bildung jeden verbleibenden Versuch der «endlosen Reform, ohne Revolution» beiseite fegen?
In der internationalen Waldorfbewegung für Kleinkinder, Kinder im Schulalter und Jugendliche können wir daran arbeiten, unser Haus in Ordnung zu halten, so gut wir können. Denn die Schulen sind jetzt offen! Kinder gehen in die Schule, um heute etwas zu lernen!
Lehrerinnen und Lehrer sind dazu berufen, in der Gegenwart zu arbeiten, nicht in all den Morgen, die wir uns vorstellen können, die möglicherweise aber nie kommen werden. Trotzdem scheint es auch notwendig zu sein, einen grösseren Horizont im Auge zu behalten, wenn man über Lehre und wesentliche Merkmale der Waldorfschule nachdenkt. Die herausfordernden Veränderungen, die vor uns liegen könnten, sind zu berücksichtigen.
Es stellen sich da viele Fragen: Steuern wir bald auf eine Zukunft ohne Schule zu? Sind Klassenzimmer auf dem Rückzug? Wird Bildung – Lehrplan, Unterricht, Stundenplan, Lehrerinnen und Lehrer – durch Therapie, Genesung und «Lebensassistenten» ersetzt? Wird sich Bildung in den kommenden Jahren in etwas wie Gesundheitsfürsorge und Wohlbefinden verwandeln? Werden Wissen und Erkenntnisse über Kindheit, Kinder und Lernen einfach aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwinden und durch hoch personalisierte Lern- und Wohlfühlalgorithmen ersetzt?
Wenn der Lehrplan und die Schulfächer an die KI ausgelagert werden, wird sich das Lernprogramm auf die Entwicklung der Sinne, das Sprechen und Zuhören, die Bewegung, die Verkörperung, die Ernährung und das soziale Miteinander konzentrieren. Wenn ich KI habe, warum soll ich dann noch buchstabieren lernen? Oder schreiben? Geschweige denn arbeiten?
In diesen Tagen werden wir mit einem verwirrenden Mosaik von neuen und sich verändernden Anzeichen konfrontiert. Je nach Perspektive und Temperament scheinen wir auf einen mustergültigen oder apokalyptischen Wandel zuzusteuern, oder auf beides. Im Folgenden werden einige «vielsagende» Zeichen der Zeit genannt:
Deuten diese Schlagzeilen auf eine dystopische Zukunft hin? Ist die Schule, wie Alice Cooper (1972) behauptete, «für immer verloren»? Oder könnte es sein, dass diese Szenarien – so entmutigend sie auch erscheinen mögen – eine goldene Gelegenheit für Eltern, Erziehende, Kinder und Jugendliche darstellen?
Lebendig bleiben
Wenn Regierungen und Behörden auf den Plan treten, werden wir, die Mitglieder der Waldorfgemeinschaft, die Vorstellungskraft, das Engagement und das nötige Rüstzeug dafür haben, um einen lebensbejahenden Ansatz für das Lernen und die Betreuung zu bieten. Wir werden unseren Teil zur Verwirklichung der Aufgabe der Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert beitragen – eine Erziehungskunst für unsere Zeit.
Am 7. September 1919 hielt Steiner anlässlich der Eröffnung der Waldorfschule eine Rede vor Eltern, Lehrenden und Kindern. In seinen Ausführungen legte er die Essenz von Erziehung dar:
«Lebendig werdende Wissenschaft! Lebendig werdende Kunst! Lebendig werdende Religion! Das ist es letztlich, was Erziehung ist.»
Die Arbeit geht weiter.
Trevor Mepham
Oktober 2024
Fussnoten
1: Stuart Russell in «The Guardian»
2: Anmerkung der PädSek: Bill Gates bezeichnete Sulyemans Buch im Dezember 2024 auf seiner Webseite als sein Lieblingsbuch über AI
3: Bericht von Save the Children
4: Daten aus ourworldindate.org
5. Daten des britischen Bildungsministeriums
6. Erhebung des Nationalen Gesundheitsdienstes von Grossbritannien
7. Bericht der NEU
8. Ziel 4 ist ein von der UNO festgehaltenes Ziel
9. Quelle der Zahlen: Euronews/ Agence France Presse (AFP)