Natürlich weiss ich es. Natürlich wissen wir es: Zur Kollegiumsarbeit gehört das Grundstudium der allgemeinen Menschenkunde.1 Lesen Sie hier einen Beitrag von Philipp Reubke.
In vielen Aufsätzen und Büchern ist seit hundert Jahren viel über das Thema Pädagogische Konferenz geschrieben worden.2 Im letzten Pädagogischen Kurs von Rudolf Steiner in Torquay, an der Südküste von England, im August 1924, klingt es so: «Und dazu sind gerade die Lehrerkonferenzen da. Die sind dazu da, wirklich den Menschen zu studieren und dadurch in der Menschenkunde, ich möchte sagen, einen fortlaufenden Strom durch die Schule fliessen zu lassen.» Das Wesentliche ist, dass die Lehrerkonferenzen ein fortlaufendes, ein fortdauerndes Studium sind.3
Es ist Donnerstagnachmittag. Obwohl ich das oben Zitierte sinnvoll finde – oft habe ich bemerkt, wie mir Begriffe der anthroposophische Menschenkunde geholfen haben, meinen Blick bei der Beobachtung der Kinder zu orientieren und mein Verständnis zu vertiefen – werde ich jetzt nach der Anspannung eines vollen Unterrichtstages müde. Endlich sind meine Präsenz und Kreativität nicht mehr zu 150 Prozent gefordert. So dämmert meine Aufmerksamkeit hinweg, während ein Kollege einen Vortrag über Menschenkunde hält. Andere Kollegen korrigieren Hefte, checken ihre SMS und Apps oder sind erst gar nicht erschienen.
Wie machen wir die Studienarbeit so, dass wir etwas lernen, dass Denkgewohnheiten aufgelöst werden, dass wir durch Fragen verunsichert, durch Überraschendes aufgeweckt, durch Zuhören und Nachdenken in neue Denkbewegungen kommen? Wie bleiben wir Lernende? Das ist eine wichtige Aufgabe für Lehrende.
Hier folgen einige Beispiele der kollegialen Studienarbeit aus meiner Erfahrung:
In der Waldorfschule, in der ich Ende der 80er-Jahre als Berufsanfänger begann, war es noch üblich, sich für ein ganzes Schuljahr einen pädagogischen Zyklus Steiners als Thema für die Studienarbeit vorzunehmen.
Das trug dazu bei,
- dass eine grosse Mehrheit der 35 Kolleginnen und Kollegen motiviert bei der Sache blieb,
- dass jede Woche eine andere Person die Einleitung machte und methodisch völlig frei war. Vorgetragen wurden eine 20-minütige Zusammenfassung eines ganzen Vortrags, eine künstlerische Übung zu einem Motiv, eine Liste von Fragen der für den Vortragenden völlig unverständlichen Passagen, eigene Gedanken und Variationen zu einem einzigen Satz mit anschliessender Kleingruppenarbeit, eine Lektüre eines Absatzes mit anschliessender Bearbeitung einer Frage in Kleingruppen usw. Es gab so viele verschiedene Formen wie Personen. Wir schlossen nicht nur Bekanntschaft mit Aspekten der anthroposophischen Menschenkunde sondern auch mit der betreffenden Kollegin, welche die Einleitung machte.
- dass in einem anderen Schuljahr beschlossen wurde etwas zügiger und systematischer vorzugehen: Zehn Lehrende mussten sich verpflichten, einen Vortrag in 15 Minuten zusammenzufassen und Fragen für die anschliessende Kleingruppenarbeit vorzubereiten, die sich über zwei bis drei Sitzungen hinzog.
- dass immer darauf geachtet wurde, ein Gleichgewicht zwischen Momenten im Plenum und Kleingruppengruppen zu haben. Für Schulen mit mehr als 30 Lehrpersonen eine hygienische Arbeitsmethode.
In den Fachkonferenzen des Kindergartens begegnete ich einer anderen Problematik: das Kollegium war so klein (vier bis acht Personen), dass man aufgrund der freundschaftlichen familiären Stimmung meinte, auf Tagesordnungen und Gesprächsleitung verzichten zu können. Darunter litt dann auch die Studienarbeit, die erst wieder an Qualität gewann, als wir merkten, dass Form und Vorbereitung ebenso wichtig für die Inspiration sind wie herzliches Interesse. Dies ermöglichte uns, andere Formen der Studienarbeit auszuprobieren, die uns begeisterten:
Ein Beispiel aus dem Kindergarten: Welche Farben wollen wir in welcher Form ab welchem Alter für das Malen zur Verfügung stellen? Die Vertreterinnen jeder der unterschiedlichen Ansichten verpflichten sich, jeweils zwei Einheiten der Studienarbeit zu leiten und stellen dazu Zitate, sowie Hinweise auf Artikel und Bücher zusammen, die als Argumente für ihre Position dienen können. Nach einer Einführung geben sie genügend Zeit für Fragen und für Gespräch. Selten kamen wir so gut vorbereitet zur Pädagogischen Konferenz. Die Energie, die vorher für den Streit aufgewendet wurde, verwandelte sich in Interesse für pädagogische und menschenkundliche Forschungsfragen.
Voraussetzung: eine Kollegin muss das Buch oder den Artikel gelesen haben und in der Konferenz zusammenfassen können, eventuell auch vorher schon ein paar Zitate zur Verfügung stellen. Nach dem Referat versuchten wir in freier Weise einen Vergleich mit der Waldorfpädagogik zu ziehen. Was ist ähnlich? Was ist anders? Wo gibt es fundamentale Unterschiede? Was ist eine sinnvolle Ergänzung? Da bei diesem Gespräch oft unterschiedliche Gesichtspunkte auftreten, war das dann wiederum Anlass für ein vertieftes Steiner-Studium: Wenn Du meinst, dass dies oder jenes ein wesentliches Merkmal der Waldorfpädagogik ist, finde uns doch einmal Passagen, in denen Steiner davon spricht.
Der Kollege, der ein begeisterter Bewegungskünstler und Sportler war, hatte ein ebenso ausgeprägtes Interesse für Steiners Darstellungen der Körpersinne. Da wir ihn längere Zeit mit der Vorbereitung der Studienarbeit betrauten, sprang sein Interesse dann auf das ganze Kollegium über.
Es gibt sicher so viele Beispiele gelungener Studienarbeit wie es Waldorfeinrichtungen gibt.
Eine herzliche Einladung ergeht hiermit an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus Ihrer Erfahrung zu berichten. Welche Formen der Studienarbeit haben Sie als besonders gelungen erlebt?
Gerne würden wir in kommenden Ausgaben dieses Newsletters Ihre Erfahrungen und Vorschläge teilen, damit wir alle immer mehr die von Steiner beschriebene Waldorfpädagogen-Haltung kultivieren können: «Eigentlich musst du noch alles selber lernen –, als zu denken: Eigentlich bist du doch ein furchtbar gescheiter Kerl.»4
Philipp Reubke
Fussnoten
1: Zitat aus einem Artikel von Martyn Rawson aus dem Jahr 2001. Der Artikel erschien in dem tiefsinnigen und anregenden Sammelband von Hartwig Schiller (hrsg).- Innere Aspekte der Konferenzgestaltung.- Stuttgart (Freies Geistesleben) 2001 – S. 72
2: Z. B. Stefan Leber.- Die Sozialgestalt der Waldorfrschule.- Stuttgart 1974; Michael Kalwa.- Die Konferenz in der Waldorfschule.- Stuttgart (Freies Geistesleben) 1998.
3: Rudolf Steiner.- Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit.- (GA 311). Vortrag vom 19.8.1924.
4: Rudolf Steiner.- Die pädagogische Praxis.- (GA 306) 8. Vortrag